Die Höhen und Tiefen der Digitalisierung



Laut einer DIHK-Umfrage von Ende 2022 unter mehr als 4.000 Betrieben bleiben die Unternehmen in Deutschland wie schon im Vorjahr bei ihrer durchwachsenen Selbsteinschätzung in puncto „Digitalisierung“ und bewerten ihren Digitalisierungsgrad im Durchschnitt mit der Schulnote „befriedigend“ (2,9). Aber spiegelt diese Sichtweise den echten Fortschritt wider? Marc Oliver Hugger, Chief Executive Officer (CEO) bei Tresonus: „Die Definition von Digitalisierung ist kein klar umrissener Standard, sondern bietet viel Spielraum. Für die einen ist Digitalisierung nur das Arbeiten mit Office, für die anderen, manuelle Tätigkeiten stringent in einem Workflow mit KI umzusetzen.“ Die größte Herausforderung sei daher, eine klare und konsequente Digital-Only-Unternehmensstrategie zu schaffen.

Während die Digitalisierung im privaten Umfeld rasant voranschreitet, kommt sie in vielen Unternehmen und in der öffentlichen Verwaltung eher schleppend voran. Bei vielen Unternehmen fehle schlicht das echte Verständnis für ihr Kerngeschäft und wie sie es durch die Möglichkeiten der Digitalisierung verändern, gestalten und ausbauen könnten, meint Christian Rauch, Vice President Transformation Consulting Services bei der iTSM Group. „Bei der Mehrheit der Unternehmen drängt sich der Eindruck auf, man müsse Digitalisierung betreiben, weil es irgendwie ja alle anderen auch tun.“ Dies sei eher ein Mitschwimmen, als dass es einem klaren strategischen Geschäftsziel folge.

Digitalisierung ist kein Selbstzweck

Auch Hugger betont, die Digitalisierung sei kein Selbstzweck und dürfe nicht um der Digitalisierung willen erfolgen. „Im Vordergrund steht die Effizienz des Gesamtprozesses – auch wenn eine hybride Strategie das erreicht.“ Das heißt, wo analoge Prozesse Sinn machen, können sie durchaus bestehen bleiben. Dort komme man aber nur hin, wenn man eine Digital-Only-Strategie anstrebe – sonst würden alte analoge Strukturen per se nicht ersetzt. „Leider kommt bei zu vielen Unternehmen der Druck nur seicht von außen, geschweige denn überhaupt von innen“, meint Hugger. „Es fehlt der Druck, weil auch die objektive Vergleichbarkeit zu Wettbewerbern fehlt.“ Gleichzeitig gehe es den Unternehmen noch zu gut, um einen Digitalisierungsdruck von innen aufzubauen. „Die größte Herausforderung ist aber in meinen Augen der Generationenwandel“, sagt Sirko Schneppe, Chief Customer Officer (CCO) bei Diva-e. Heutzutage würden die meisten Leitungspositionen noch Menschen besetzen, die zwar mit dem PC aufgewachsen sind, die aber das Internet nur als E-Mail-Postfach verstehen. „Sie unterschätzen die Möglichkeiten und fokussieren auf die Risiken, um sich dieser Herausforderung nicht mehr stellen zu müssen.“

 

 

Know-how ist eine wichtige Komponente

Zwar haben Russlands Krieg gegen die Ukraine, Probleme in den weltweiten Lieferketten sowie die weiterhin hohe Inflation Unternehmen aus fast allen Branchen zugesetzt, laufende Digitalisierungsvorhaben bremsen die aktuellen Krisen aber kaum aus. „Solche Projekte im Kerngeschäft sind nicht von Budgetkürzungen oder Ähnlichem betroffen und werden auch nicht verschoben“, sagt Christian Rauch, denn „durch Digitalisierung erwartet man sich in der Regel mehr Unabhängigkeit, Kostensenkungen und höhere Flexibilität, um auf Veränderungen am Markt sowie gesellschaftlicher Art zu reagieren“.

Damit werde die Digitalisierung eher als Notwendigkeit gesehen, diesen aktuellen Veränderungen zu begegnen. „Digitalisierung ist auf allen Ebenen zu wichtig geworden, um sie aufzuschieben, und viele allgemeine Investitionen benötigen digitale Komponenten und eine entsprechende IT-Architektur, um überhaupt zu funktionieren“, betont Sirko Schneppe. Dabei ist klar, dass der digitale Wandel nicht ohne versierte Fachkräfte gelingen kann. Doch inwieweit stellt der branchenweite Fachkräftemangel in diesem Kontext ein Problem dar? „Kaum, wenn die Unternehmen neue, kreative Wege finden, Fachkräfte zu gewinnen und zu binden“, ist Rauch überzeugt. „Lokalität, formale Ausbildung und Ähnliches spielen eine immer untergeordnetere Rolle. Wer intelligentes Sourcing im Personalstamm betreibt, kann seine Digitalisierungsvorhaben mit Geschwindigkeit umsetzen.“

Hugger hingegen sieht im Fachkräftemangel gewisse Risiken für Digitalisierungsinitiativen: „Auf der einen Seite entsteht heute ein Engpass, wenn Fachleute nicht bei Digitalisierungsaufgaben unterstützen können. Auf der anderen Seite werden durch dieses Versäumnis Potenziale bei der Digitalisierung morgen nicht genutzt werden können, z.B. bei der Automatisierung von Prozessen. Das bedeutet, dass Unternehmen perspektivisch der Herausforderung entgegentreten, auch für solche Aufgaben Personal zu finden.“ Schneppe ist überzeugt, dass sich personelle Engpässe weniger auf Vorhaben auswirken als vermutet, denn der Arbeitsmarkt sei durchlässig. Aber: „Nach meiner Erfahrung beginnt der Arbeitskräftemangel eher beim angestammten Personal, welches innerbetrieblich die digitalisierten Projekte steuern soll. Hier gibt es schlicht zu wenig qualifizierte Fachkräfte, die Betriebliches mit Digitalem in Einklang bringen“, mahnt Schneppe und stellt fest: „Je mehr die Technologie zum Wettbewerbsfaktor wird, umso gezielter sollte man hier auch intern personell nachrüsten und sich informiert halten – insbesondere auf der Management-Ebene und bei Strategieentscheidungen.“

 

 

Der Wandel in den Köpfen

Die Experten sind sich überwiegend einig, dass heute niemand mehr den Anforderungen, die die Digitalisierung an Wirtschaft und Gesellschaft stellt, aus dem Weg gehen kann – und es gibt noch eine Menge zu tun: „Wer glaubt, Corona hätte die Prozesse beschleunigt, wird vom Gegenteil überzeugt. Behörden haben beim Thema ,Digitalisierung‘ vollkommen versagt“, sagt Marc Oliver Hugger. Statt echter Digitalisierung würden die meisten Behörden noch immer auf das Verständnis der Gesellschaft setzen. Darauf sollten sich Unternehmen bei ihren Kunden und Mitbewerbern lieber nicht verlassen. „Selbst der Bau einer Lagerhalle ist heutzutage ohne digitale Ansätze nicht mehr möglich“, so Schneppe. „Jedes Unternehmen, jede Organisation sollte sich eine eigene Strategieabteilung oder ein Team leisten, welches die technologische Entwicklung ,außerhalb‘ der Kernwertschöpfung beobachtet und daraus eigene Strategien und Investitionsprojekte ableitet, oder bei Bedarf eine externe Beratung hinzuholen.“ Woran es aus seiner Sicht meistens fehlt, sei der Blick auf die indirekten Einflüsse auf das Unternehmen. „Die Frage etwa, wie und wann KI ihre betrieblichen Prozesse beeinflussen wird, können nur wenige Unternehmer zielführend beantworten. Doch für Ansätze, wie KI für die eigenen Produkte und deren Weiterentwicklung eingesetzt werden kann, gibt es fast überall Experten und Produktmanager, die darauf sehr gute Antworten haben“, meint der Experte.
Nicht zuletzt geht es bei der Digitalisierung immer auch darum, innovativ und wettbewerbsfähig zu bleiben und noch mehr Effizienz in die Arbeitsabläufe zu bringen. „Wer die Digitalisierung als Möglichkeit versteht, Zusammenarbeits- und Entscheidungsmodelle im Unternehmen neu zu gestalten, wird auch in Zeiten des Fachkräftemangels als attraktiver Arbeitgeber und erfolgreiches Unternehmen bestehen können“, resümiert Christian Rauch.

 

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