„Die Inflation erfordert einen Kulturwandel“

ITD: Herr Simon, die hohe Inflation grassiert nun schon viel länger als von vielen Politikern und von der Europäischen Zentralbank prognostiziert. Noch vor Kurzem wurde von einem rasch vorübergehenden Phänomen gesprochen. Hat man sich da verschätzt?
Prof. Hermann Simon: Absolut. Den voranschreitenden Geldwertverlust wird man nicht so schnell stoppen können. Kluge Leute wie der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Simon aus München, der bereits Weihnachten 2020 vor einer Inflationskatastrophe gewarnt hatte, haben das auch vorhergesehen. Die derzeit hohe Inflationsrate ist ja nicht nur eine Folge des Ukraine-Konfliktes – mit ihr rächt sich vielmehr die langjährige Politik des lockeren Geldes.

ITD: Herr Springub, wie muss die Wirtschaft mit dieser Erkenntnis, dass die Inflation wohl doch länger dauert, umgehen?
Benjamin Springub: Dass eine Inflation anfänglich kleingeredet wird, ist nicht neu. In den 1970er-Jahren hatten Zentralbanken und Makroökonomen zunächst auch nur ein temporäres Problem gesehen; entsprechend viel Zeit hatten sie sich mit ihren Reaktionen gelassen. Währenddessen waren die Preise weitergaloppiert. Daran hat man gesehen: Tatenlos abzuwarten, bis sich die Lage bessert, ist die falsche Reaktion. Wahrscheinlich wird es von jetzt an über Jahre hinweg eruptionsartig auftretende Kosten- und Preissteigerungen geben. Man darf deshalb aber nicht jahrelang mit wichtigen Investitionen warten. Investitionen in die Digitalisierung müssen zeitnah vorgenommen werden! Wer damit lange wartet, wird vom digitalen Wandel überrollt – und verpasst außerdem die Chance, mithilfe von digitalen Lösungen frühzeitig Spareffekte zu erzielen und nebenbei seine Umweltbilanz zu verbessern. Deshalb haben Bund und Länder ja auch mannigfaltig Förderprogramme aufgelegt. Diese sind ein weiteres gewichtiges Argument gegen Investitionszurückhaltung.

ITD: Macht sich aufgrund der anhaltend hohen Inflation denn schon eine gewisse Investitionszurückhaltung bemerkbar?
Simon: Ja, allerdings in ambivalenter Weise. Einerseits scheuen Unternehmen größere Anschaffungen, andererseits akzeptieren sie die Notwendigkeit von effizienzsteigernden Technologien. Herr Springub hat völlig recht: In die Digitalisierung zu investieren, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt richtig und wichtig, denn mehr Digitalisierung bedeutet mehr Effizienz – und damit letztlich auch mehr Kostendämpfung. Die Unternehmen wissen, dass sie ihre gestiegenen Beschaffungskosten nicht voll an ihre Kunden weitergeben können, also bemühen sie sich stattdessen um eine Reduzierung ihrer übrigen Betriebskosten. Durch Digitalisierungsmaßnahmen sind laut Experten Effizienzsteigerungen im Bereich von 25 Prozent möglich. Ich denke daher, dass man viele Unternehmen davon überzeugen kann, trotz Inflation in Digitalisierungsmaßnahmen zu investieren – vorausgesetzt, die Rentabilität solcher Maßnahmen lässt sich mit harten Zahlen belegen.

Springub: Das ist auch meine Erfahrung. Es geht den Unternehmen beim Digitalisieren nicht primär ums Image, sondern um Prozessoptimierung: Die Digitaltechnik soll ihnen helfen, entweder Geld zu sparen oder ihre Kunden besser zu erreichen beziehungsweise das Kundenerlebnis zu optimieren. Und das funktioniert ja auch, wenn wir das am Thema Effizienzsteigerung festmachen: Laut Umfragen haben 81 Prozent der mittelständischen Unternehmen, die Fördermittel für Digitalisierungsmaßnahmen beantragt haben, Effizienzsteigerungen erzielen können.

ITD: Nun ist es ja so, dass die Dinge, die zur Prozessoptimierung nötig sind – wie Automatisierung, Robotik und künstliche Intelligenz – in der breiten Öffentlichkeit eher mit dystopischen Szenarien als mit nützlichem Fortschritt assoziiert werden. Ist das vielleicht auch in Teilen der Wirtschaft so? Fehlt es einigen Unternehmen schlicht an Wagemut?
Simon: Davon darf sich die Wirtschaft nicht beirren lassen. Sie hat im Übrigen auch keine Wahl, denn teure Rohstoffe und hohe Prozesskosten sind ja nur eine Seite der Kostentreibermedaille. Die andere Seite ist menschliche Arbeitskraft. Diese wird zum einen im Zuge der jetzt aufspringenden Preis-Lohn-Spirale immer teurer werden und ist zum anderen auch eine immer knapper werdende Ressource, denn der Fachkräftemangel wird kontinuierlich größer statt kleiner. Die Inflation erfordert also einen Kulturwandel: Digitalisierung und Automatisierung dürfen nicht länger als Wagnis angesehen werden, sondern sind als Notwendigkeiten zu akzeptieren. Betriebe, die sich beidem verweigern, werden mittelfristig nicht überleben können.

ITD: Abgesehen vom Investieren in Digitaltechnik – was können oder müssen Unternehmen sonst noch tun, um der Inflation angemessen zu begegnen?
Simon: Die Unternehmen müssen agiler werden. Sie müssen frühzeitiger erkennen, welche Entwicklungen sich kostensteigernd auswirken könnten, und entsprechend vorausschauend agieren – zum Beispiel mit Vorratseinkäufen oder mit Produktänderungen. Wenn es immer drei Monate dauert, bis ein Betrieb seine Abläufe auf eine Verknappung eingestellt hat, ist das viel zu lange; da ist die Jahresbilanz im Grunde schon verhagelt. Und ja: Natürlich spielt Digitalisierung auch im Hinblick auf Agilität eine Rolle.

Springub: Ich möchte noch ergänzen, dass Agilität viele Facetten hat. Schnelle Informationsbeschaffung, etwa durch Echtzeit-Analysen mithilfe von Digitaltechnologien, ist eine davon. Aber zum Agilsein gehört noch mehr – zum Beispiel, zeitnah Förderanträge zu stellen, wenn die öffentliche Hand Gelder freigibt. So etwas auf die lange Bank zu schieben, nur, weil es womöglich kompliziert sein könnte, ist alles andere als agil.

ITD: Zusammenfassend: Welchen strategischen Fahrplan zur Inflationsbewältigung würden Sie beide den Unternehmen an die Hand geben?
Simon: Zwei grundlegende Direktiven: Erstens – Inflationsbewältigung darf sich nicht in dem Bemühen erschöpfen, Einkaufspreiserhöhungen zu kompensieren. Höhere Einkaufspreise sind für viele Unternehmen ja gar nicht die größte Sorge. Viel gravierender ist für sie das Problem, dass sie überhaupt keine Rohstoffe oder Ersatzteile bekommen, auch nicht zu höheren Preisen. Es geht also auch um mehr Flexibilität in der Produktgestaltung. Zweitens – Geld ist in Inflationszeiten eine verderbliche Ware. Heißt: Das Geld muss schnell hereinkommen – wir werden deshalb wohl die Rückkehr des Skontos erleben –, es muss aber auch schnell wieder ausgegeben beziehungsweise investiert werden. Schließlich kann das Geld morgen schon weniger wert sein als heute.

Springub: Insbesondere die zweite von Herrn Professor Simon genannte Direktive wäre auch mein Fahrplan. Ich will es mal etwas anders ausdrücken, nämlich mit dem Slogan der Telekom: „Digitalisierung.Einfach.Machen.“ Jetzt ist nicht die Zeit, zögerlich zu sein und lange über das Für und Wider im Zusammenhang mit technologischen Neuerungen zu diskutieren. Umsetzungsbereitschaft ist gefragt! Es gilt, alle sich bietenden Möglichkeiten zu eruieren und dabei natürlich auch nach Förderungen Ausschau zu halten. Viele Unternehmen sind offenbar der Ansicht, dass Fördermittel nur etwas für bedürftige Unternehmen sind – das ist völlig falsch. Insbesondere dann, wenn man wirtschaftlich gut dasteht, kann und sollte man Fördermöglichkeiten ausnutzen, denn das lohnt sich immer. Und die Zukunft im Blick zu haben, sollte für jede Unternehmerin und jeden Unternehmer ohnehin selbstverständlich sein.

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