Agiles Teamworking: Wie Webasto die Produktentwicklung transformiert

Der deutsche Automobilzulieferer Webasto richtet die Produktentwicklung in allen Standorten auf ein Scrum-basierendes agiles Management-Framework sowie crossfunktionale und kleine Teams aus.


Foto: Webasto

Bereits 2016 hatte Webasto begonnen, hierzulande in der Entwicklung auf agile Teams zu setzen. Die guten Erfahrungen wollte das Agile Transformation Team nun sukzessive auf das ganze Unternehmen ausweiten – mit diesem Ziel:

Das ATT, das sich aus Teilnehmer:innen verschiedenster Abteilungen sowie externen Consultants zusammensetzt, sollte einen laufend anpassbaren Rahmen für die Skalierung aufsetzen: Zum einen mit dem Ziel, den Produktverantwortlichen genug Orientierung zu geben, um arbeitsfähige, selbstorganisierte Teams aufzubauen. Zum anderen sollten die Produktteams größtmögliche Gestaltungsfreiheit erlangen. Damit dies gelingt, war beispielsweise ein Teilziel, das interne Fachwissen der Mitarbeitenden zu mobilisieren und besser zu nutzen sowie gleichzeitig zu viele Kontextwechsel aufgrund vielzähliger Projekte zu vermeiden.

Dafür identifizierte das ATT mit dem Management folgende vier Zieleigenschaften:

  • Fokussiert (Ausrichtung aller Tätigkeiten an der Wertschöpfung)
  • Responsiv (schnelle Reaktionsfähigkeit der Organisation)
  • Kollaborativ (Zusammenarbeit auf Augenhöhe, Selbstverantwortung und Selbstorganisation)
  • Lösungsorientiert (im Sinne des Agilen Manifests: Lösungen sind wichtiger als die Einhaltung von Prozessen).

Zu jedem dieser Zielaspekte wurden vier bis sechs konkrete Grundsätze ausformuliert, die den eigentlichen Rahmen für das Arbeitsmodell bilden. Sie schützen und fördern, was für die Zusammenarbeit wichtig ist. Dazu zählt etwa beim “Fokus”, dass Menschen für einen bestimmten Zeitraum nur einem Team zugeordnet werden. Bei “Lösungsorientierung” hingegen, dass Teams klein, engagiert, autonom, multidisziplinär und funktionsübergreifend sind, wobei eine Person die Geschäfts- und Kundenanforderungen verantwortet.

1. Drei Ebenen für ein bestmögliches Zusammenspiel

Das Zusammenarbeitsmodell ist in drei Teile aufgeteilt: Die strategische Ausrichtung und fachliche Führung bildet das Fundament. In der Mitte sind die Teams verortet, welche mit ihrer Arbeit die eigentliche Wertschöpfung für den Kunden schaffen. Oben sind die Spezialist:innen und die Supporter in eigenen Chaptern, also Zusammenschlüssen von Expert:innen derselben Domäne, angesiedelt. Je nach Bedarf werden diese vollumfänglich in die einzelnen Wertschöpfungsteams entsandt und sind dort anschließend temporär vollwertige Teammitglieder oder sie arbeiten nur punktuell zu, wenn dieser Umfang an Unterstützung für die effektive und effiziente Wertschöpfung ausreicht.

In diesem Rahmenmodell konzentrieren sich die strategische beziehungsweise Produkt-/Systemebene und die “Chapter” ausschließlich darauf, die crossfunktionalen Teams, die am Produkt arbeiten und damit den Wert schaffen, bestmöglich zu unterstützen.

Die englische Bezeichnung “AHEAD” (vorwärts) steht für den Grundgedanken hinter dem Rahmenwerk: mit voller Kraft voraus!

Die Teams in der mittleren Ebene generieren Kundenwert und werden von der unteren Ebene durch strategische Entscheidungen unterstützt. Die obere Ebene umfasst die Expert:innen in den Chaptern, die punktuell in den Wertschöpfungsteams unterstützen.


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2. Autonomes Handeln der Teams mit wenig Abhängigkeiten

Webasto ist in fünf Geschäftsbereiche Dachsysteme, Heizsysteme, Ladesysteme und Batterien für Elektroautos sowie Spezialanfertigungen gegliedert. Jeder dieser Bereiche wird organisatorisch in “Business Lines” unterteilt, im Geschäftsbereich Heizsysteme beispielsweise in “Elektrisches Heizen” und “Fossiles Heizen”. Die Crux: Insgesamt sind 15.700 Angestellte an 50 Standorten (davon mehr als 30 Produktionsstandorte) weltweit tätig. So kam es, dass einige Entwickler:innen bereits sehr tief in einzelne Produktentwicklungen eingebunden waren, während die Mehrheit im Frühjahr 2021 gleichzeitig in mehrere Projekte involviert war – beispielsweise zu 20 Prozent in einem und zu 40 Prozent in einem anderen. Diese zahlreichen Kontextwechsel gingen jedoch zu Lasten der Effektivität.

Ziel der agilen Transformation war es, dass ein Team zwar mit verschiedenen Aufgaben betraut sein kann, die Einheit des jeweiligen Teams aber bestehen bleibt. In den ersten Pilotprojekten zum Zusammenarbeitsmodell bewiesen bereichsübergreifende und crossfunktional agierende Teams, die nicht größer als zehn Personen waren und deren Mitglieder ständig dem Team angehörten, einen besseren Wirkungsgrad. Aufgrund eines gemeinsamen Ziels – zum Beispiel einer Produktneuentwicklung oder eines bestimmter Kundenauftrags – entstand ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und das Team konnte durch weniger Abhängigkeiten schneller über Teamgrenzen hinweg agieren als andere Arbeitsgruppen.

  1. 9 Gründe, weshalb agile Unternehmen ihr Business und Krisen besser meistern
    Agile Methoden haben in vielen Unternehmen zwar schon Einzug gehalten, meist aber nur in Einzelbereichen wie zum Beispiel der IT. Eine Studie der Technologieberatung BearingPoint zeigt jedoch, dass Unternehmen mit einer durchgängig agilen Organisation sowie in der Unternehmenskultur verankertem agilen Mindset den Alltag und Krisen schneller und besser meistern. Gute Gründe für mehr Agilität.
  2. Vereinfachte Prozesse
    Agile Organisationen zeichnen sich durch hohe End-to-End-Prozessverantwortung, schlanke Prozesse, hohe Prozessautomatisierung und -standardisierung aus. Je leichtgewichtiger und standardisierter Prozesse sind, umso kosteneffizienter können Organisationen agieren.
  3. Vereinfachte Steuerungslogik
    Organisationen, die in Abhängigkeit von Prioritätsänderungen flexibler steuern können, sind in Krisenzeiten besser in der Lage, schnell auf geänderte Parameter zu reagieren.
  4. Vereinfachte Organisationsstruktur
    Agile Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass anhand der Wertschöpfungskette durchgängig verantwortliche, autonome und cross-funktionale Teams aufgebaut und Abteilungsgrenzen aufgelöst werden. In Krisenzeiten profitieren agile Organisationen durch bessere Zusammenarbeit über Teams, Abteilungen oder Business Units hinweg.
  5. Höherer Innovationsgrad
    Interdisziplinäre Teams wirken als Brutkasten für innovative Ideen und Ansätze. Außerdem verfügen agile Organisationen öfter über offene Ökosysteme und profitieren in Krisenzeiten von diesem Netzwerk.
  6. Schnelle Reaktionsfähigkeit
    Es gilt, die Krise als Chance zu sehen und Änderungen willkommen zu heißen. Strukturen und Prozesse wie agiles Portfolio Management oder Objektive and Key Results helfen kontinuierlich neu zu bewerten. Agile Organisationen arbeiten iterativ mit vielen Feedback-Schleifen und das ständige Hinterfragen und Reagieren auf Änderung ist Teil ihrer DNA.
  7. Kundennähe und Kundenzentriertheit
    Gerade in Krisenzeiten muss den Kundenbedürfnissen entsprechend noch zielgerichteter agiert werden. Schnelles Feedback ist hier extrem wertvoll. Als Organisation muss bewusst auch mit Teilprodukten auf den Markt zu gegangen werden, um etwaige Kundenwünsche oder Adaptionen früh genug berücksichtigen zu können.
  8. Hohe Selbstorganisation und Teamwork
    Teams, die es gewohnt sind, auch selbst Entscheidungen zu treffen, sind in Krisenzeiten flexibler und besser vorbereitet. Organisationen, deren Management sehr stark auf Selbstorganisation setzt und Entscheidungsbefugnisse weitgehend an die agilen Teams delegiert haben, sind schneller, was auch in Krisenzeiten ein immenser Vorteil ist.
  9. Neuer Leadership-Stil
    Führungskräfte sind in Krisenzeiten besonders gefordert und profitieren von Skills, die für agile Organisationen typisch sind. Eine starke und offene Kommunikation kann Sorgen und Unsicherheiten ausräumen und psychologische Sicherheit vermitteln. Führungskräfte, denen es gelingt, eine nachhaltige Fehlerkultur zu etablieren, fördern nicht nur das kontinuierliche Lernen, sondern sorgen auch dafür, dass Mitarbeiter bereit sind, Entscheidungen und Risiken zu treffen.
  10. Technologie-Führerschaft
    Agile Organisationen zeichnen sich durch eine Technologieführerschaft und den Einsatz moderner State-of-the-Art-Technologien aus. Organisationen, die bereits vor der Krise begonnen haben, ihre Kernsysteme auf eine Micro-Service-Architektur mit losen gekoppelten Services umzubauen und den Einsatz von Continuous-Integration-Systemen forciert haben, sind in der Lage, schneller und unabhängiger zu produzieren und kontinuierlich Releases zu veröffentlichen.

3. Neue Rollen und eine angepasste Meeting-Struktur

In Anlehnung an das agile Management-Framework Scrum wurden neue Rollen eingeführt. Sie unterteilen sich in Product Owner (Komponenten-Verantwortliche) und Chief Product Owner (Produktverantwortliche). Darüber hinaus wird für jedes Entwicklungsteam ein Agile Master (ähnlich einem Scrum Master) bestimmt. Seine Aufgabe ist es, für produktive Teamarbeit zu sorgen. Die Agile Coaches wiederum zeichnen für die teamübergreifende Produktivität verantwortlich und unterstützen Führungskräfte im Transformationsprozess. Die meisten Produktteams richten ihr Tun an einem Meeting-Zyklus aus, der sich stark an Scrum orientiert: Das heißt mit Sprint Planning, Dailys, Review, Retrospektive und Backlog Refinement. Je nach Bedarf kann der Zyklus an die Bedürfnisse angepasst werden. Parallel dazu kommen für die Product Owner der verschiedenen Teams teamübergreifende Meetings hinzu sowie für die Chief Product Owner Meetings zur strategischen Abstimmung.

4. Das Agile Implementation Team treibt voran

Um das Wissen des neuen Modells in die ganze Organisation zu tragen, stellte das ATT gemeinsam mit den Produktverantwortlichen je ein Agile Implementation Team (AIT) pro Business Line auf. In jedem AIT waren zwei Personen aus dem ATT vertreten, außerdem verschiedene Rollen aus der entsprechenden Business Line – unter anderem ein Agile Coach und ein Product Owner. Zum Verständnis: Ein AIT setzt das Rahmenwerk in die Praxis um: Es baut die Produktteams auf und unterstützt sie während der Pilotphase bei der Anwendung und Anpassung der neuen Arbeitsweise. Wichtig: Das AIT ist als Konzept für die kurzfristige Unterstützung gedacht. Sobald die Teams einer Business Line die Unterstützung nicht mehr benötigen, wird das AIT aufgelöst. Von diesem Zeitpunkt an übernehmen die Agile Master der jeweiligen Teams sowie die teamübergreifenden Agile Coaches allein die unterstützende Rolle.

5. Eine Wissensplattform vermittelt Hintergründe

Nachdem die Teams durch ein AIT geformt wurden, beginnt für die Teilnehmer eines jedes Produktteams die Vorbereitung auf das neue Arbeitsmodell mit speziell auf die Projektgruppe zugeschnittenen Methoden– und Rollentrainings. Eine eigens dafür aufgesetzte digitale und interaktive Wissensplattform bietet aber nicht nur den unmittelbar Beteiligten Einblicke in den aktuellen Stand der agilen Transformation, sondern ist für alle Mitarbeitenden zugänglich. So werden beispielsweise in einem transparenten Verfahren die aktuellen Projekte des ATT sowie die angewandten Methoden sichtbar. Das AHEAD Framework liefert aber auch Anschauungsunterricht wie es funktioniert und wie es grundsätzlich auch im eigenen Bereich genutzt werden kann.

Die Webasto-Wissensplattform: Die Zusammenarbeit in den Teams änderte sich mit dem neuen Modell fundamental. Eines der vielen Teilergebnisse ist etwa, dass die Mitarbeitenden nicht mehr in Status-Meetings über den Stand der Entwicklung berichten, sondern alle Interessierten zum sogenannten Review-Meeting eingeladen sind. Das Review dient dazu, dem Nutzer oder Kunden die Ergebnisse der Entwicklungsarbeit zu präsentieren. Fanden die neuen und etablierten Meetings in den ersten Wochen noch parallel statt, übernahm das Review nach und nach allein diese Funktion: Die Teams werden nicht mehr vom Management gebeten, ein Update zu geben, sondern das Management wird vom Team in seine Arbeitsräume eingeladen, um sich etwa das neue Produkt direkt dort anzusehen.


Foto: Webasto

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